Psalmen – Gebete auf dem Weg /Teil 4
Freude an der Weisung des Herrn – Impulse aus Psalm 1
Mit einer Seligpreisung werden die Beterinnen und Beter am Eingangsportal des Psalters empfangen. Herzlicher, wohlwollender kann eine Begrüßung kaum ausfallen. Die Ankommenden werden nicht direkt angeredet. Ihnen wird ein glücklicher Mensch vor Augen gestellt: „Glückselig der Menschi …“. Die Person, der die Seligpreisung gilt, hat keinen Namen, wie auch „Jedermann“ in den Salzburger Festspielen keinen Namen hat. Gerade dadurch entsteht die Frage: Bin ich vielleicht „Jedermann“? Gilt die Seligpreisung auch mir? Um diese Frage zu beantworten, stellt der Psalmist bewusst „schwarz-weiß malend“ zwei Lebensentwürfe einander gegenüber. Diese Art der Darstellung will die Beterinnen und Beter dafür gewinnen, den Weg zum Leben finden, einen Weg, der Bestand hat.
Glückselig … in einer zerrissenen Welt?
Der Beter, dem die Seligpreisung gilt, lebt in keiner friedfertigen und heilen Welt. Im Gegenteil! Sein Leben bedeutet auch Kampf. Er hat seinen Weg in einer Welt voller Konflikte zu gehen, die durchwirkt ist von Gewalt, von Intrigen und rücksichtsloser Arroganz. Wie ist es möglich, in einer Welt, in der zerstörerische, ja todbringende Kräfte so einflussreich sind, glaubwürdig und gültig zu leben? Die ersten beiden Verse des Psalms weisen einen Weg:
1 Glückselig der Mensch, der nicht nach dem Rat der Frevler geht,
nicht auf dem Weg der Sünder steht,
nicht im Kreis der Spötter sitzt,
2 sondern sein Gefallen hat an der Weisung des HERRN,
bei Tag und bei Nacht über seine Weisung nachsinnt.
Vom Mut, „nein“ zu sagen
Glückselig wird dieser Beter zunächst deshalb gepriesen, weil er den Mut besitzt, „nein“ zu sagen. Er ist nicht bereit, den ihm anvertrauten Schatz des Glaubens preiszugeben. Um den Weg zu einem glücklichen Leben zu beschreiten, den der Psalm weist, ist eine Abgrenzung notwendig. Deshalb beginnt der Text mit einem dreifachen „Nein“.ii Diese entschiedene Absage geschieht angesichts einer erdrückenden Mehrheit („Frevler“, „Sünder“, „Spötter“), die das öffentliche Leben zu bestimmen scheint. Die Verben „gehen“, „stehen“ und „sitzen“ umschreiben die gesamten Lebensvollzüge eines Menschen, betreffen also sein ganzes Leben. Sich darauf einzulassen würde bedeuten, völlig in einer selbstbezogenen, gottfernen Welt aufzugehen, in ihr heimisch zu werden und Gottes zu vergessen. Gerade dies will der Beter nicht. Nur in der Bereitschaft, gegen den Strom des Zeitgeistes zu schwimmen, ist es möglich, zur Quelle zu gelangen.
Gottes Weisung (Tora) als Lebensgrund
Die bewusste Entscheidung, „nein“ zu sagen zu gesellschaftlichen Mainstreams, führt den Beter zunächst in eine Einsamkeit. Er kann und darf die Lebensweise anderer nicht einfach imitieren. Er hat seinen eigenen, ganz persönlichen Weg zu gehen. Gerade durch den Mut zum eigenen Weg öffnen sich ihm neue Türen – eine Lebensfülle durch die Tora. Sie ist tragender Grund seines Lebens. Das Wort „Tora“, hier mit „Weisung“ übersetzt, kann sich auf die fünf Bücher Mose beziehen. Wahrscheinlich ist hier in einem weiter gefassten Sinn an die „Offenbarung Gottes“ gedacht. Wie der Ausdruck „Evangelium Jesu Christi“ sich nicht einfach nur auf die vier Evangelientexte beschränkt, sondern die gesamte Offenbarung Gottes in Jesus Christus meint, so steht auch „Weisung JHWHs“ für die Offenbarung Gottes, für den göttlichen Heilsplan, wie er in besonderer Weise in den fünf Büchern Mose bezeugt ist. Dem Lebensentwurf der Frevler steht somit die Offenbarung Gottes gegenüber. An ihr hat der Beter „Gefallen“ gefunden. In der Weisung Gottes – so legt es das hebräische Verb ḥāfeṣ „Gefallen finden“ nahe – fühlt er sich zu Hause, hier kommt er in Wahrheit bei sich selbst an.
Heimat finden im Wort Gottes
Das befreiende Wort Gottes öffnet die Welt des Beters auf das Du Gottes hin. An dieser Beziehung zum DU seines Lebens hängt sein Herz. Die Weisung vom Sinai erinnert ihn, wie Gott das Leben des Volkes und auch sein eigenes Leben bislang begleitet und geführt hat: heraus aus Unterdrückung und Sklaverei, hin zum Ort der Gottesnähe. Diese Verbundenheit mit Gott, die das göttliche Wort schenkt, soll fortan sein ganzes Leben bestimmen. „Tag“ und „Nacht“, also allezeit soll ihn das Wort begleiten. Immerdar soll das Licht der göttlichen Weisung sein Leben erhellen und ihm Richtschnur sein für den rechten Weg. Der Beter, der hier seliggepriesen wird, hat seine Entscheidung getroffen: Er will den Weg des göttlichen Willens gehen. Seine Entschlossenheit wirkt auf die Beterinnen und Beter des Psalms als Ermutigung und Einladung, es ihm gleichzutun und mit ihm, sensibilisiert für die göttliche Weisung, den Gebetsraum des Psalters zu betreten.
Wie ein Lebensbaum
In einprägsamen Bildern stellt der Psalmist das verheißene Glück eines Lebens mit Gott vor Augen. Es sind Lebensbilder! Sie zeigen, was geschieht, wenn ein Mensch bereit ist, sich auf das Abenteuer eines Lebens nach dem Willen Gottes einzulassen.
3 Er ist wie ein Baum,
gepflanzt an Bächen voll Wasser,
der zur rechten Zeit seine Frucht bringt
und dessen Blätter nicht welken.
Alles, was er tut, es wird ihm gelingen.
Der in der Weisung JHWHs beheimatete Mensch gleicht einem fruchtbaren Baum, der sich hat umpflanzen lassen an reichlich fließendes Wasser. Hier schlägt er Wurzeln. Hier bringt er seine Früchte hervor. Ein ähnliches Bildwort gebraucht der Prophet Jeremia, um den Segen des Gottvertrauens hervorzuheben. „7 Gesegnet der Mensch, der auf den HERRN vertraut und dessen Hoffnung der HERR ist. 8 Er ist wie ein Baum, der am Wasser gepflanzt ist und zum Bach seine Wurzeln ausstreckt: Er hat nichts zu fürchten, wenn Hitze kommt; seine Blätter bleiben grün; auch in einem trockenen Jahr ist er ohne Sorge, er hört nicht auf, Frucht zu tragen.“ (Jer 17,7-8). Der an Wasser gepflanzte Baum ist ein Lebensbild für ein erfülltes und gelingendes Leben. In der Zeit der Krise, in der Stunde der Not, auch in Stunden und Tagen geistlicher Trockenheit sind es Gottvertrauen und ein Leben aus Gottes Wort, die Leben und Bestand verleihen.
Lebenslügen durchschauen
Der Weg der Frevler und Sünder hingegen, so sehr diese sich auch selbst inszenieren mögen, hat keinen Bestand. Das Bild der vom Wind verwehten Spreu ist Zeichen ihrer Vergänglichkeit.
4 Nicht so die Frevler:
Sie sind wie Spreu, die der Wind verweht.
5 Darum werden die Frevler im Gericht nicht bestehen
noch die Sünder in der Gemeinde der Gerechten.
6 Denn der HERR kennt den Weg der Gerechten,
der Weg der Frevler aber verliert sich.
Ob mit dem Gericht an ein reales innergeschichtliches Verfahren gedacht ist oder eine Anspielung auf ein Endgericht vorliegt, wird unterschiedlich beantwortet. Eines ist jedoch deutlich: Die Wege der Frevler verlieren sich. Sie entpuppen sich als „Nicht-Wege“, als Illusionen, denen die Frevler wie einer Fata Morgana gefolgt sind. Für den Beter stellen sie keine wirkliche Alternative dar. Der Weg der Tora hingegen führt heraus aus der Einsamkeit, hinein in eine Gemeinschaft, in die „Gemeinde der Gerechten“: in die Versammlung derer, die ihren Weg mit Gott gehen. Der Herr „kennt den Weg der Gerechten“. jādac „kennen“ ist eine Beziehungsvokabel, die liebevolle Zuwendung und wachsame Fürsorge ausdrückt. Der Beter weiß, dass sein Lebensweg nicht scheitern, sondern gelingen wird: als Weg vor Gottes Angesicht, in Gottes bleibender Nähe.
Freude am Leben mit Gott
Zu einem Leben in inniger Gottesnähe lädt auch Jesus von Nazaret ein, damit das Haus des Lebens auf einem verlässlichen Halt steht. Wer sich an seine Worte hält, findet in Wahrheit Halt. Dabei betont Jesus, dass sein Wort nicht nur gehört, sondern gelebt sein will. „Jeder, der diese meine Worte hört und danach handelt, ist wie ein kluger Mann, der sein Haus auf Fels baute. Als ein Wolkenbruch kam und die Wassermassen heranfluteten, als die Stürme tobten und an dem Haus rüttelten, da stürzte es nicht ein; denn es war auf Fels gebaut“ (Mt 7,24-25).
Was geschieht, wenn jemand damit beginnt, dem Wort Gottes Raum zu geben und daraus zu leben? Jesus selbst hat dies den Jüngern anvertraut. „Wenn jemand mich liebt, wird er mein Wort halten; mein Vater wird ihn lieben und wir werden zu ihm kommen und bei ihm Wohnung nehmen“ (Joh 14,23). Durch ein Leben nach dem Wort nimmt Gott selbst in uns Wohnung (vgl. Joh 1,12; 1 Kor 6,19; 2 Kor 6,16). Ein Glück also, dass es das Wort Gottes gibt, seine lebensvolle Wegweisung. Fürwahr – glückselig der Mensch, „der sein Gefallen hat an der Weisung des Herrn“.
Prof. Dr. Franz Sedlmeier, Universität Augsburg
Nächste Nummer:
Das Chaos unter den Völkern und der Messias Gottes – Überlegungen zu Psalm 2
Wähle das Leben: Dtn 30,15.19-20
15 Hiermit lege ich dir heute das Leben und das Glück, den Tod und das Unglück vor. […] 19 Den Himmel und die Erde rufe ich heute als Zeugen gegen euch an. Leben und Tod lege ich dir vor, Segen und Fluch. Wähle also das Leben, damit du lebst, du und deine Nachkommen. 20 Liebe den Herrn, deinen Gott, hör auf seine Stimme, und halte dich an ihm fest; denn er ist dein Leben. Er ist die Länge deines Lebens, das du in dem Land verbringen darfst, von dem du weißt: Der Herr hat deinen Vätern Abraham, Isaak und Jakob geschworen, es ihnen zu geben.
i Das hebräische Wort ha´isch ist im Sinne von „jedermann“, „jeder Mensch“ zu verstehen. Die Mehrzahl der Bibeln übersetzt mit „der Mann“ (so auch die revidierte Einheitsübersetzung). Psalm 1 macht hingegen eine generische Aussage. Er wendet sich an Frauen und Männer, gleich welchen Alters und Standes, gleich welcher Herkunft. Vgl. auch die Aussage beim Propheten Hosea, Hos 11,9: „Denn ich bin Gott, nicht ein Mensch“ (lo´ ´isch).
ii Auch die Erneuerung des Taufgelübdes in der Osternacht kennt neben dem dreifachen Bekenntnis „ich glaube“ auch die dreifache Absage „ich widersage“.