Psalmen – Gebete auf dem Weg | Teil 1
Ein faszinierendes und umstrittenes Buch
Kann man die Psalmen heute noch beten? – Die Antworten auf diese Frage fallen unterschiedlich aus. Ich kenne Menschen, die sie täglich beten und mit Psalmversen im Herzen durch den Tag gehen. Sie sind ihnen eine geistliche Nahrung geworden. Ich kenne auch Menschen, die sich mit diesen Gebeten schwertun. Auch Geistliche haben mitunter ihre Not mit dem Stundengebet, vor allem mit den vielen Verwünschungen und Gewaltbildern, die in diesen uralten Gebeten auftauchen. Zwei prominente Stimmen mögen für die unterschiedliche Wahrnehmung der Psalmen stehen. „Ich bin ziemlich sicher“, – so der Lyriker und Schriftsteller Heinz Piontek – „dass heutzutage außer unseren Geistlichen nur noch wenige in den Psalmen des Alten Testaments lesen. Ein paar Bibeltreue wahrscheinlich, einige kranke alte Menschen, vielleicht auch ein junger Dichter, der bei Brecht gelernt hat, wie gut Luthers kräftiges oder feingestimmtes Deutsch in unserer Zeit noch zu gebrauchen ist ...“.[i] – Rainer Maria Rilke hingegen schreibt in einem Brief an seinen Verleger: „Ich habe die ganze Nacht einsam hingebracht ... und habe schließlich die Psalmen gelesen, eines der wenigen Bücher, in denen man sich restlos unterbringt, mag man noch so zerstreut und angefochten sein.“[ii]
Was also sind die Psalmen? Gebete für einige Außenseiter, für Spezialisten? Für die Geistlichen, die die Psalmen im Gehorsam rezitieren müssen – als Offizium? Gebete für kirchliche Mitarbeiter? Vielleicht noch für einige kirchentreue und fromme Menschen, die bewusst mit der Kirche leben wollen? – Als fremdes und als befremdendes Buch erscheint der Psalter vielen Menschen unserer Tage. Doch daneben gibt es auch die gegenteilige Erfahrung: Der Psalter als Buch, das jemand in seinen schlaflosen Nächten aufschlägt. Die Psalmen als Gebete, in denen jemand sich und sein Leben unterbringen kann.
Gebete Israels und der Kirche
Sie haben eine große Geschichte, trotz allem Hin und Her, allem Für und Wider, trotz aller Vorbehalte, die es wohl zu allen Zeiten gegeben hat. Seit 2000 Jahren sind die Psalmen Gebete der Kirche. Sie erklingen zu allen Tag- und Nachtzeiten – in den Klöstern und Abteien über den ganzen Erdball hin. Doch schon viele Jahrhunderte zuvor und all die Jahrhunderte hindurch haben sich Frauen und Männer in Israel diese uralten Worte zu eigen gemacht und mit ihnen dankend, klagend und lobpreisend ihr Leben Gott anheimgegeben, um aus Gottvertrauen ihr Leben bestehen zu können. Die Psalmen waren und sind Gebete auf den vielfältigen Wegen des Lebens.
Um die Zeitenwende galt der Psalter als beliebtes Gebets- und Meditationsbuch. Dies war er sicherlich auch für Jesus und die heilige Familie, dann für die Frauen und Männer, die mit Jesus unterwegs waren. Keines der alttestamentlichen Bücher wird so häufig im Neuen Testament aufgegriffen wie der Psalter. Etwa ein Drittel der alttestamentlichen Zitate ist dem Buch der Psalmen entnommen. Nicht nur die Verfasser der neutestamentlichen Schriften, auch die Gemeinden, denen sie schrieben, waren mit den Worten der Psalmen zumindest teilweise vertraut. Nur so waren sie fähig, die vielfältigen Bezüge und Anspielungen zu verstehen, die zwischen Altem und Neuem Testament hergestellt wurden. Und zugleich konnten die ersten Christen die neuen Töne heraushören, die in den Psalmen – im Lichte der Gotteserfahrung Jesu und des österlichen Geheimnisses – zum Klingen kamen.
Der Psalter – ein Buch aus fünf Büchern
Der Psalter besteht aus 150 Psalmen, die in fünf Bücher untergliedert sind. Diese Einteilung bezeugen jüdische und christliche Autoren, wie die aus der Mitte des 3. Jahrhunderts stammende Aussage von Origenes zeigt: „In fünf Bücher teilen die Juden das Buch der Psalmen.“ Die Einteilung in fünf Bücher wird durch Doxologien (Lobpreisungen), die die einzelnen „Bücher“ abschließen, deutlich markiert. So heißt es am Ende von Psalm 41 (V 14): „Gepriesen sei der Herr, der Gott Israels, von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen, ja amen.“ Noch umfassender ist die Doxologie am Ende des messianischen Psalms 72: „(18) Gepriesen sei der Herr, der Gott Israels! Er allein tut Wunder. (19) Gepriesen sei der Name seiner Herrlichkeit auf ewig! Die ganze Erde sei erfüllt von seiner Herrlichkeit. Amen, ja amen. (20) Zu Ende sind die Bittgebete Davids, des Sohnes Isais.“
Am Ende des dritten Psalmenbuches findet sich der kurze Lobpreis von Psalm 89,53: „Gepriesen sei der Herr in Ewigkeit. Amen, ja amen.“ Psalm 106,48 schließt das vierte Psalmenbuch ab: „Gepriesen sei der Herr, der Gott Israels, von Ewigkeit zu Ewigkeit. Alles Volk soll sprechen: Amen. Halleluja!“ Umstritten ist die fünfte und letzte Doxologie. Manche sehen sie im Schlusspsalm 150. Wahrscheinlicher ist es, dass Psalm 145 mit seinen Anfangs- und Schlussversen die entscheidenden doxologischen Aussagen bringt: „(1) Ich will dich erheben, meinen Gott und König, ich will deinen Namen preisen auf immer und ewig. (2) Jeden Tag will ich dich preisen und deinen Namen loben auf immer und ewig.“ „(21) Das Lob des Herrn spreche mein Mund, alles Fleisch preise seinen heiligen Namen auf immer und ewig!“
Der Psalter und seine Architektur
Wer eine der großen römischen Basiliken besucht, wird zunächst im Narthex, der schmalen eingeschossigen Vorhalle empfangen. Aus der Vorhalle tritt man in den mehrschiffigen Kirchenraum, bestehend aus einem breiten Hauptschiff und zwei oder vier kleineren Nebenschiffen. Ähnlich lässt sich auch die Architektur des Psalters erklären. Nimmt man die beiden Psalmen 1 und 2 als Einführung in den Psalter – als Art Vorhalle – und die Psalmen 146–150 als sein großes Finale – eine Art Apsis mit Hochaltar –, dann ergibt sich folgende Architektonik des Psalters, vergleichbar mit einer fünfschiffigen Basilika:
Einführung: Ps 1-2
• Buch I: Ps 3-41: Schlussdoxologie in 41,14
• Buch II: Ps 42-72: Schlussdoxologie in 72,18f
• Buch III: Ps 73-89: Schlussdoxologie in 89,53
• Buch IV: Ps 90-106: Schlussdoxologie in 106,48
• Buch V: Ps 107-145: Schlussdoxologie in Ps 145,1-2.21
Schlusshallel: Ps 146-150
Nun ist diese Einteilung des Psalters in fünf Bücher durchaus kein Zufall. Mit diesem „Fünf-Buch“ wird gezielt auf den Pentateuch (die fünf Bücher Mose: Genesis, Exodus, Levitikus, Numeri, Deuteronomium) Bezug genommen. Die prägnante Formulierung des Midrasch Tehillim[iii] (3.-9. Jahrhundert n. Chr.) macht dies deutlich: „Mose gab den Israeliten die fünf Bücher der Tora, und David gab den Israeliten die fünf Bücher der Psalmen.“ Handeln die fünf Bücher Mose vor allem vom Wirken Gottes in der Schöpfung und an seinem Volk auf dem Weg durch die Geschichte, so sind die Psalmen in erster Linie als die Antwort Israels[iv] auf das vorgängige Handeln Gottes zu verstehen.
Die Psalmen – Antwort auf Gottes Handeln
Wie gestaltet sich die Kommunikation in den Psalmen? Wer spricht zu wem? In der Tora (den fünf Büchern Mose) ist es vor allem Gott, der spricht bzw. Mose beauftragt, seine Worte weiterzugeben. Die Propheten verstehen sich als Boten Gottes. Eine wichtige Formel, die sie verwenden – die sog. Botenformel – lautet: „So spricht der Herr.“ Das Wort ergeht von Gott her und erreicht, vermittelt durch berufene Menschen, das Gottesvolk oder einzelne Personen.
Für die Psalmen ist die umgekehrte Sprechrichtung kennzeichnend. Sie bringen das zur Sprache, was den Menschen bewegt, was im Menschen lebt, was ihn beglückt, belastet oder quält. In Lob und Klage, in Dank und Bitte öffnet sich menschliche Existenz auf Gott hin. Psalmen nennen beim Namen, was dem Menschen eigen ist, auch all das Unerlöste, nicht Geheilte. Im Beten der Psalmen sprechen sich Frauen und Männer zu Gott hin und vor Gott aus. Sie bringen ins Wort, was der Stoff ihres Lebens ist. So sind Psalmen Anstifter zu einem lebendigen und vitalen Gespräch mit Gott. Sie sind – „Gebete auf dem Weg“!
Der Gott der Bibel führt keinen Monolog. Sein Wort will die Menschen erreichen und sie zur Antwort bewegen. Gott sucht das Gespräch, die Begegnung mit dem Menschen und will ihm inne sein. In dieses Jahrtausende alte Gespräch einzustimmen, dazu laden die Psalmen ein – auch heute. Ziel dieser neuen Reihe über die Psalmen ist es, den Psalter als das zu erschließen, was er ist: als Lebensbuch. Genau das wollen die Psalmen sein: Gebete auf dem Weg, Gebete, die bewegen, in denen ein jeder und eine jede sich und das eigene Leben ganz unterbringen kann.
Prof. Dr. Franz Sedlmeier, Universität Augsburg
[i] Zitiert nach Erich Zenger. Mit meinem Gott überspringe ich Mauern, Freiburg 1987, S. 9.
[ii] Zitiert nach Erich Zenger, Die Schrift, in: Christ in der Gegenwart 17 (1988) 143.
[iii] „Tehillim“ (Lobpreisungen) ist die hebräische Bezeichnung für die Psalmen, die im Judentum geläufig ist. Vgl. den Buchtitel „Preisungen“ in der Übersetzung von Martin Buber und Franz Rosenzweig. Unter „Midrasch“ versteht man eine rabbinische Kommentierung biblischer Bücher, hier des Psalters.
[iv] Der evangelische Alttestamentler Gerhard von Rad bezeichnete die Psalmen als „Antwort Israels“ auf das Heilshandeln Gottes.
Das Anliegen des Psalters, das alltägliche Leben ins Gebet, ins Gespräch mit Gott zu bringen, zeigt ein modernes Gebet der Dichterin Helga Schultes Piccon mit dem Titel „Gebet einer Nur-Hausfrau“.[i]
Gebet einer Nur-Hausfrau
Gott
ich preise dich
mit dem Beutel Staub
den ich von Sofa und Boden gesaugt habe
mit dem Berg Geschirr
der unter meinen Händen wieder Glanz annimmt
zur nächsten Mahlzeit
mit dem Seifenschaum
auf eingezogenen Hälsen
mit Salbenfingern
auf Babies Popo
mit Pflaster
auf zerschundene Bubenknie
mit der Hand auf dem sandigen Struwwelkopf
von Schluchzen geschüttelt
mit Wadenwickeln
auf fieberheiße Haut
ich preise dich
mit meinen zwei Händen
voll Dreck und Abwasch und Windelkot
und Tränen und Trost
und Notwendigkeit
deiner Welt
[i] H. Schultes-Piccon, Gebet einer Nur-Hausfrau, in: A. Lissner, Du lässt dich finden in uns selbst. Mit neuen Worten beten (Reihe: Frauenforum), Freiburg 1987, 38.