Jubel und Dank der Magd des Herrn
Bei ihrem ersten Wort: „Siehe, ich bin die Magd des Herrn“ (1,38) steht der Dienst, den sie vom Herrn annimmt, im Vordergrund. Ihr zweites Wort ist ganz auf das Handeln Gottes ausgerichtet. Voll Jubel preist sie den Herrn und dankt ihm für das, was er an ihr gewirkt hat. Sie sagt: „Meine Seele preist die Größe des Herrn und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter. Denn auf die Niedrigkeit seiner Magd hat er geschaut. Siehe, von nun an werden mich selig preisen alle Geschlechter. Denn der Mächtige hat Großes an mir getan“ (1,46-49). Maria hebt hervor, was sie als die Magd des Herrn von Gott her kennzeichnet: seine Liebe, die sie aus allen Frauen erwählt, und seine Macht, die sie befähigt, die Mutter seines Sohnes zu sein.
Gott hat Maria auserwählt
Unter den vielen jungen Frauen, die damals in Israel lebten, hat Gott Maria für ihren einmaligen Dienst auserwählt. Durch nichts hat sie diese Wahl verdient; sie kommt allein von Gott her, als sein souveränes Geschenk. Von sich aus ist Maria die niedrige Magd, ist wie alle Menschen ein geringes Geschöpf, das an den Herrn keine Ansprüche stellen kann. Aber Gott hat seine unverdiente, geheimnisvolle und undurchschaubare Zuneigung auf sie gerichtet. Maria spricht hier selber erstmals von Gottes Verhalten zu ihr.
Zuvor nannte sie der Engel „Begnadete“ (1,28) und sagte damit: Gott hat dich begnadet, er hat dich so geschaffen, dass du das Wohlgefallen und die Liebe Gottes auf dich ziehst. Und Elisabet sagte zu ihr: „Gott hat dich gesegnet mehr als die anderen Frauen“ (1,42). Nun spricht Maria selber aus, mit Blick auf ihren Dienst, dass Gott sie in einzigartiger Weise bevorzugt hat. Von sich aus ist sie nur die niedrige Magd. Doch der, „der die Mächtigen vom Thron stürzt und die Niedrigen erhöht“ (1,52; vgl. 14,11; 18,14), hat seinen liebevoll erwählenden Blick auf sie gerichtet. Es ist ein unfassbares Geschehen, dem nur Dank und Jubel, ohne Maß und Ende entsprechen können.
Gott hat Großes an Maria getan
Schon der Engel hat auf die Frage Marias geantwortet: „Heiliger Geist wird über dich kommen und Macht des Höchsten wird dich überschatten“ (1,35). Und er bekräftigte seine Botschaft mit dem abschließenden Wort: „Nichts wird sich der Macht Gottes entziehen“ (1,37). Elisabet hat Maria selig gepriesen für ihren Glauben, dass Gott die Macht hat, sein Wort zu erfüllen (1,45). Nun richtet Maria selber den Blick auf die Macht Gottes.
Am Beginn und Grunde ihres einmaligen Dienstes als die Mutter des Herrn steht das machtvolle Handeln Gottes. Er hat sie, die sich als Jungfrau bekennt (1,34), ohne das Mitwirken eines Mannes zur Mutter seines Sohnes gemacht. Dieses Tun Gottes wird zu allen Zeiten das Staunen der Menschen hervorrufen und ihre bewundernde Aufmerksamkeit auf Maria lenken.
Der Jubel der Magd des Herrn
Ein wesentliches Kennzeichen der Magd des Herrn ist ihr Jubel, die Freude, die sie im Innersten erfasst und erfüllt und die sich in ihrem Loblied an Gott äußert. Diese Freude kommt nicht unvermittelt, sie hat ihre Geschichte. Der Engel begann seine Botschaft mit den Worten: „Freue dich, Begnadete, der Herr ist mit dir“ (1,28). Das Allererste, was Maria von Gott her gesagt wird, ist diese Einladung zur Freude. Wir hören, dass sie sich in den Dienst des Herrn stellt (1,38), erfahren aber nichts von ihrer Freude.
Elisabet sagt dann abschließend zu Maria: „Selig ist die, die geglaubt hat“ (1,45); sie stellt fest: Du bist selig, du hast allen Grund zu maßloser, überwältigender Freude. Da erst bricht Maria in Jubel aus, und es ist buchstäblich der Jubel der Magd des Herrn. Grund ihrer Freude ist ja das Handeln Gottes, zu dem sie Ja gesagt hat, als sie ihren Dienst annahm. Sie hat Gott über sich und ihr Leben verfügen lassen und ist nicht mehr frei, sondern ist für ihr Leben an diesen Dienst gebunden. Aber nicht trotz dieses Dienstes und seiner Bindung, sondern gerade wegen ihres Dienstes jubelt sie. Denn ihr Dienst verbindet sie, tief und persönlich, mit Gott, und er ist der Gott der Freude. Nur die Verbindung mit Gott kann unsere Sehnsucht nach Glück wahrhaft erfüllen. Freude braucht auch Zeit, um zu wachsen und zu reifen. Je mehr Maria sich des Handelns Gottes bewusst wird, desto größer wird ihre Freude sein. Diese Freude wird kein Ende haben, sie kann sich immer nur steigern, da sie in Gott begründet ist. Wie Maria wird dann ihr Sohn Jesus jubeln, als er wahrnimmt, dass Gott, der Vater, seine Sendung bei den Unmündigen gelingen lässt (10,21).
Gemeinschaft in der Freude
Maria ist mit ihrem Jubel nicht allein, sie ist umgeben von Menschen, die sich mit ihr und ihretwegen freuen. Elisabet, die als erste Maria als die Mutter ihres Herrn erkennen darf und die davon überwältigt und begeistert ist, teilt ihr mit: „Siehe, als die Stimme deines Grußes an meine Ohren kam, hüpfte das Kind vor Jubel in meinem Leib“ (1,44).
Ihr Kind und sie selber werden von dem, was in Maria geschehen ist, erreicht und nehmen es voll Jubel auf. Elisabet preist dann Maria selig (1,45), sie darf erfassen, wie Maria allen Grund zur Freude hat, und nimmt an dieser Freude teil. In ihrem Preisgesang wendet sich darauf Maria an Elisabet: „Siehe, von nun an werden mich selig preisen alle Geschlechter“ (1,48). Sie sagt ihr in kühner Voraussicht: Du bist die Erste, die mich selig gepriesen hat. Was du begonnen hast, wird durch alle Zeiten weitergehen. Die Menschen werden nie aufhören, mich selig zu preisen und voll Freude an meiner Erwählung zur Magd des Herrn teilnehmen.
Prof. P. Dr. Klemens Stock SJ
em. Prof. für Neues Testament am päpstlichen Bibelinstitut